Rockmusik sei tot, hört man sagen. Kaum zu glauben für einen wie mich, der die guten alten Rock-Klassiker aus den Siebziger- und Achtzigerjahren rauf und runter hört. Doch sollte der Rock wirklich tot sein, ich wüsste da eine durchaus ebenbürtige Alternative: Country – gehört und erlebt am dreitägigen Country2Country-Festival in London.
Countrymusik ist – einfach gesagt – die Volksmusik von Amerika. Traditionell und heimatverbunden. Prägende Instrumente sind Gitarre, Banjo, Mandoline, Fiddle, Klavier und Mundharmonika. So die landläufige Meinung.
Aber Country kann auch anders. Hart und rockig nämlich.
Diese Form nennt man dann New Country. Ok, ich geb’s ja zu: New Country hat wenig mit der traditionellen Countrymusik der amerikanischen Südstaaten zu tun. New Country ist vor allem in Nashville, Tennessee zuhause und auf Mainstream und Kommerz ausgerichtet. Dafür ist New Country aber auch massentauglicher. Und da wären wir dann wieder beim Rock, beim Stadion-Rock. Was die Headliner beim C2C (so wird das Country2Country-Festival liebevoll genannt) auf der Bühne zeigten, war ganz grosse Klasse. 2019 stand bereits die achte Ausführung an (2020 und 2021 fiel das Festival coronabedingt aus). Freitag, Samstag, Sonntag volles Programm mit jeweils vier Konzerten in der ausverkauften O2-Arena, die im südlichen Londoner Stadtteil Greenwich, auf der Greenwich Peninsula, liegt. Und das gleiche Programm – nur in anderer Reihenfolge – auch in Dublin und Glasgow. Clever gelöst: Die Stars aus Übersee fliegen für drei Konzerte nach Europa und spielen an drei aufeinanderfolgenden Tagen in drei verschiedenen Städten.
Der Entertainer des Jahres stellte alles in den Schatten
Allen voran Keith Urban überzeugte. Als amtierender ACM- und CMA-Entertainer Of The Year wusste er das Publikum von den Stühlen zu reissen. Was der Ehemann von Schauspielerin Nicole Kidman auf der Bühne zeigte, war schlicht grossartig. Präsenz, Ausstrahlung, Special Effects, Musik und Gesang waren top. Der 52-Jährige – in Neuseeland geboren, in Australien aufgewachsen und jetzt in den Staaten daheim – setzte schon früh auf Country. Bereits im zarten Alter von acht Jahren gewann er eine Talent-Show. Seit den frühen Neunzigerjahren lebt und arbeitet Urban in Nashville. In dieser Zeit veröffentlichte er rund ein Dutzend Alben. Auf der Londoner Bühne spielte er alle seine Hits – vom frühen Somebody Like You über Somewhere In My Car und dem Grammy-nominierten Blue Ain’t Your Color bis hin zum aktuellen Werk Never Comin Down, mit dem der Ausnahmekünstler seine Show in London eröffnete. Gleichentags standen auch noch Chase Rice, CAM und Brett Eldredge auf der grossen C2C-Bühne. Doch Urban stellte sie alle in den Schatten.
Ashley McBryde gehört die Zukunft
Als weitere Höhepunkte des diesjährigen C2C-Festivals dürfen – ich denke das ist unbestritten – die Auftritte von Newcomerin Ashley McBryde und Überflieger Chris Stapleton bezeichnet werden. Beide vermochten mit tollen Hymnen und rockigen Röhren zu überzeugen. Ashley McBrydes Album Girl Goin’ Nowhere gilt in Sachen Country als eines der besten Debutwerke des Jahres. Ihr Repertoire umfasst Classic Country, Blues und Southern Rock gleichermassen. Rauchig, rau und rockig. Ihr gehört zweifelsohne die (Country-) Zukunft.
Gleiches gilt auch für Chris Stapleton. Der in Kentucky geborene Sänger ist mehrfacher Grammy-, CMA- und ACM-Award-Gewinner und derzeit einer der angesagtesten Musiker in Nashville. Wahnsinn eigentlich, an einem Ort und in so kurzer Zeit eine derart geballte Ladung an Countrystars zu treffen. Einfach der Vollständigkeit halber: Neben den Genannten rockten auch noch Carly Pearce, Dustin Lynch, Hunter Hayes, Lady Antebellum, Drake White & The Big Fire sowie Lyle Lovett – mal mehr, mal weniger – die grosse Hauptbühne.
Lasst uns die Nacht durchrocken
Das Country2Country-Festival bietet aber nicht nur den ganz Grossen eine Bühne. Genauso wichtig sind auch die verschiedenen Plattformen für noch wenig bekannte, aber nicht minder interessante Newcomer. Hierzu zähle ich ganz klar Adam Hambrick und Travis Denning – beide sind für mich vielversprechende Hoffnungsträger der modernen Countrymusik. Interessant wie vor allem Hambrick, inspiriert durch Künstler wie Alan Jackson und Garth Brooks, aber auch John Mayer und The Foo Fighters, unterschiedliche Musikstile kombiniert und miteinander verschmelzen lässt. Ursprünglich war Hambrick Songwriter und schrieb Hits für Miranda Lambert, die Eli Young Band, Dan & Shay oder auch Justin Moore. Doch bald genügte ihm dies nicht mehr. Er wollte selber ins Scheinwerferlicht, was ihm am C2C auf eindrückliche Weise auch gelang. Wenn auch vorerst nur auf der Spotlight Stage. Aber wer weiss, was noch kommen mag. Seine erste Hitsingle hiess immerhin Rockin’ All Night Long. Lassen wir ihn also rocken, wenn nötig die ganze Nacht. Man hört ihm gerne zu.
Ein paar Western Boots machen noch kein Country-Feeling
Country ist nicht nur Musik, Country ist ein Gefühl, ein Lebensgefühl. Und siehe da: Schon haben wir wieder eine Parallele zum Rock.
Country ist Freiheit, Unbeschwertheit, unendliche Weite.
Nicht einfach, dieses Gefühl mitten in der Londoner City aufleben zu lassen. Und das ist dann vielleicht auch der einzige kleine Wehrmutstropfen am ganzen C2C. Real Country-Feeling kommt nicht auf. Dazu reichen die wenigen Verkaufsstände, an denen Western Boots und Lederjacken feilgeboten werden, leider nicht. Dafür braucht es mehr als zwei, drei Bars mit Longhorn-Drinks und Büffel-Burgern. Aber vielleicht ist das ja auch gar nicht so wichtig, denn mit all den üblichen Klischees verkommt das Country-Feeling schnell zum Cowboy-Feeling und löst damit bei vielen Leuten eine Abwehrreaktion aus. «Country? Nichts für mich!», so die landläufige Meinung, sobald im Country zu viel Cowboy und zu wenig Rock drin ist. Wer seinen Ohren aber eine gehörige Ladung New Country gönnt und dadurch in dieses wahre Country-Feeling eintaucht, der wird schnell feststellen, dass Country eben doch der neue Rock ist.
Das nächste Country2Country-Festival findet vom 11. bis 13. März 2022 in London, Dublin und Glasgow statt.